"Warum weinst Du?" Die Worte ließen mich aus meinen Träumen hochschrecken, ich öffnete die Augen, musste erst mal in die Realität zurück gelangen und schaute mich verwirrt um. Ich saß immer noch auf der Bank im Park und blickte nun direkt auf den See. Aber ich sah niemanden, zu dem diese Stimme gehören konnte. Auf einmal zupfte jemand an meinem Mantel, ich blickte hinunter und sah in ein rosiges Gesicht mit großen blauen Kinderaugen. Sie schauten mich fragend an und der leichte Wind zerzauste das lange Haar des kleinen Mädchens, welches zu einem Zopf geflochten war.
"Warum weinst Du?" fragte mich das Kind erneut. Ich strich mir mit den Händen die Tränen von den Wangen, die ich selber nicht mal gespürt hatte. "Aber ich weine doch gar nicht. Mir ist nur was ins Auge geraten und deshalb tränt es wohl ein wenig" sagte ich. "Nein, das glaube ich Dir nicht, denn ich habe gefühlt, dass Du weinst. In meinem Herzen. Ich kann das nämlich. Denn ich bin DU!"
Ich blickte das Mädchen verwirrt an. "Was redest Du da?" Ich schaute ihr direkt in die Augen, die mir wahnsinnig bekannt und vertraut erschienen und plötzlich spürte ich einen heftigen Ruck. Die Erde um mich herum fing an, sich zu drehen. Die Bäume im Park wurden größer und größer und die Äste hoben mich hoch in den Himmel hinauf, um mich dann wieder fallen zu lassen. Blätter flogen um mich herum und ich wirbelte durch die Luft. Ich dachte zunächst, ich würde direkt auf die Erde stürzen, aber wie von Geisterhand schwebte ich nun über dem See, konnte die Schwäne beobachten, die mich neugierig anschauten.
Die Oberfläche des Sees glitzerte in tollen Farben und die Sonne strahlte, wie sie noch nie zuvor geleuchtet hatte. Der Wind trug mich wieder zu der Bank zurück, auf der ich noch vor ein paar Minuten träumend gesessen hatte. Doch ich blieb davor stehen und sie kam mir irgendwie so groß vor. Als wäre ich ..... ja, als wäre ich ein Kind... ich drehte mich um und suchte das Mädchen mit den schönen blauen Augen, aber ich sah es nicht.
Ich ging ein paar Meter weiter und entdeckte dort eine Pfütze auf dem Boden. Ich beugte mich über sie und glaubte meinen eigenen Augen nicht zu trauen. Verdutzt schaute mich da das Mädchen an. Der lange Zopf fiel ihr ins Gesicht und ich schob ihn beiseite. Ja, ICH... denn ICH war dieses Mädchen. Was war nur passiert?
Ich drehte mich wieder zur Bank um und sah mich selber dort sitzen. Aber diesmal wieder als erwachsene, junge Frau. Als Frau, der Tränen über die Wangen rollten. Ich ging zu mir hinüber und fragte "Warum weinst Du" und dann fing die Frau zu erzählen an.
"Ich weine, weil ich mein Leben gern noch mal leben würde. Ich würde sehr viele Dinge verändern, mich anders entscheiden und ich würde mir wünschen, glücklicher zu sein. Ich habe Träume gehabt. Als Kind. Als ich so jung war wie Du. Ich habe von einer eigenen Familie geträumt. Von einem Mann, von zwei süßen kleinen Kindern. Aber es ist alles ganz anders gekommen und ich bin wahrscheinlich selber Schuld daran.
Ich nahm mir die Männer und die Männer nahmen mich. Ja, ich konsumierte sie regelrecht. Ich benutzte sie und sie benutzten mich. Es war ok für mich, auch wenn ich dennoch immer nach der wahren Liebe suchte. Dann, eines Tages, fand ich sie. Sie traf mich wie der Blitz und ich liebte dieses Gefühl. Ich liebte es, wenn er mich anschaute, wenn er mich berührte. Ich liebte seine Zunge in meinem Ohr, ich liebte die Worte, die er mir zuflüsterte. Ich liebte dieses Begehren, welches ich nur bei ihm fand. Ich liebte die Klugheit, die er besaß und mit der er mich immer wieder zum Staunen brachte.
Ich liebte seine Haare, wenn sie im Wind zerzausten. Ich liebte den klitzekleinen Leberfleck den er an seiner linken Wange hatte. Ich liebte seine etwas zu groß geratene Nase, ich liebte seine Vernunft, wenngleich ich sie auch manchmal hasste. Ich liebte es, wenn er lachte, ich liebte es, wie er mich vergötterte und auf Händen trug. Ich liebte es, zu fühlen, dass er an mich dachte, wie ich an ihn, auch wenn er gar nicht in meiner Nähe war. Ich liebte seine Geduld, die er oft mit mir hatte. Ich liebte seine ruhige Art, die mich andererseits manchmal aber auch wütend machte.
Ich liebte es, dass er mit mir umgehen konnte und mir manchmal den Weg wies. Ich liebte all die Dinge die ich von ihm lernen konnte. Selbst das Käsekuchenbacken hatte er mir beigebracht. Ich liebte seine Hände, wenn sie meinen Körper verwöhnten. Ich liebte seine kleinen Zettelchen, die er mir ständig schrieb und auf denen er liebe Worte verewigte. Ich liebte seine verrückten Ideen, wie zum Beispiel im Regen spazieren zu gehen. Ich liebte es, von ihm geliebt zu werden.
Doch auf einmal war er nicht mehr da. Er ging fort.... Für immer. Und an dem Tag fiel die Tür an meinem Herzen zu. Ich ließ niemanden mehr an mich heran. Ich lernte andere Männer kennen. Nette Männer. Doch sie fanden nie den Weg zu meinem Herzen, auch wenn sie es sich noch so sehr gewünscht hatten. Ich baute Mauern, Stacheldrahtzäune, Landminen und was es sonst noch alles gibt um mein Herz herum. Nie wieder sollte es jemand betreten.
Ich fühlte mich stark, weil ich wusste, dass mich auf diese Art und Weise nie mehr jemand verletzen konnte. Ich hatte die Macht und ich genoss es. Ich fühlte mich frei, groß und einzigartig. Nur manchmal, wenn ich alleine war.... dachte ich an die Liebe.... Und manchmal spürte ich auch noch einen stechenden Schmerz in meiner Brust, aber ich verdrängte ihn sofort.
Und manchmal musste ich auch weinen, wenn ich an die Liebe dachte. Und vor allem war ich traurig, weil ich mich einsam fühlte. Ich war an sich nicht einsam, denn ich hatte viele Freunde, aber mein Herz war einsam. Es gab kein anderes Herz mehr, sodass man sein eigenes mit dem anderen hätte teilen können. Es wurde langsam aber sicher zu Stein. Von außen. Innen drin pochte es heftig. Glutrot und heiß wie ein Vulkan, waren die Gefühle, die darin brodelten. Aber das Feuer blieb tief drinnen verschlossen. Für niemanden sichtbar.
Und heute weiß ich nicht, wie ich den Stein um mein Herz herum entfernen kann. Ich weiß nicht, ob es überhaupt in meiner Macht liegt. Es gibt Männer, die versuchen, das Schild zu entfernen, welches vor meinem Herzen hängt. Aber es ist so fest verbohrt, dass sie es nicht abbekommen. Auch wenn ich es mir vielleicht manchmal wünsche.
Und an all das habe ich gerade gedacht, als ich hier auf der Bank saß, auf der ich auch mit ihm schon so oft gesessen hatte. Er hatte das Schild vor seinem Fortgang bei mir vergessen und wird es sicher auch nie abholen. Ich werde mein Leben lang so weiterleben müssen. Und das macht mich sehr traurig."
Die Frau blickte mich mit tränenden Augen an. Ich schaute ihr direkt ins Gesicht, als ich mein Händchen ausstreckte und nach dem gut sichtbaren Schild tastete, das an der Stelle hing, unter der sich ihr Herz befand.
"Du brauchst dieses Schild nicht mehr" flüsterte ich. "Es war gut, dass es eine Zeitlang dort hing, aber nun hast Du genug gelitten. Du musst wieder leben. Du sollst die Liebe spüren. Niemand, weder ein Mann, noch eine Frau, kann Dir dieses Schild abnehmen. Nur Du alleine hast die nötige Kraft dazu! Aber ich werde Dir helfen, denn ich bin Du und ich bin all die Träume, die Du als Kind hattest und die immer noch in Dir schlummern. Du bist noch nicht zu alt, sie Dir erfüllen zu können. Vertrau mir. Nur Du hast die Kraft, Dein Herz zu befreien."
Mit zitternden Händen nahm ich das Schild herunter. Ich nahm es, ging ein paar Meter zum See hinüber, suchte nach einem großen Stein, fand ihn, zog mir mein Haarband aus den Haaren und befestigte damit den Stein an dem Schild. Ich holte aus und warf das Schild samt Stein in den See. Das Wasser spritzte, die Schwäne schauten erschrocken zu mir hinüber, aber ich hatte nur noch Augen für das Schild.... Während das Wasser anfing, den Stein in die Tiefe zu ziehen, sah ich noch zum letzten Mal die Buchstaben, die auf dem Schild prangten... "Vorübergehend geschlossen" flüsterte ich, als es endgültig in der dunklen Tiefe des Sees verschwand und mich mit einem Lächeln und dem befreiendsten Gefühl das ich je erlebt hatte, zurückließ.
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- Geschrieben von © Andrea Koßmann