Kossi's Interview-Welt mit Sabine Thiesler
Interview mit Sabine Thiesler








Sabine Thiesler

Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und war Ensemblemitglied der Berliner „Stachelschweine“. Außerdem schrieb sie erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u. a. „Das Haus am Watt“, „Der Mörder und sein Kind“ und mehrere Folgen für die Reihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“).

Ihre bisher veröffentlichten Romane:

Der Kindersammler, Oktober 2006
Hexenkind, November 2007



Im Jahr 2006 erschien Ihr sehr erfolgreicher Thriller „Der Kindersammler“. Wie entstand die Idee zu diesem Buch?
Zwanzig Jahre lang hatte ich Lust einen Roman zu schreiben, aber mir fehlte die Zeit, ich hatte zu viel fürs Fernsehen und fürs Theater zu tun. Ein Auftrag jagte den nächsten, da konnte ich so ein Mammutprojekt wie einen Roman nicht einfach dazwischenschieben. Aber dann begann sich das Fernsehen in den letzten Jahren dramatisch zu verändern. Es ging den Redakteuren nicht mehr um gute, originelle und spannende Geschichten, sondern nur noch darum, dass junge, blonde, schöne Menschen auf dem Bildschirm zu sehen waren. Und plötzlich wurde es Mode, dass am Drehbuch jeder mitredet, rumbastelt und verändert. Ein Drehbuch war kein eigenes „Werk“ mehr, sondern Rohmasse, an der sich Redakteure, Regisseure und eitle Hauptdarsteller durch Änderungen zu profilieren versuchten. Und am Ende erkannte man seine eigene Geschichte nicht mehr wieder. Also beschloss ich, das Fernsehen zurückzustellen und endlich einen Roman zu beginnen. Ohne Zensur, ohne Schere im Kopf, und ohne oberflächliche Vorgaben.

Bei einem Italienisch-Sprachkurs traf eine Freundin von mir eine Frau, die nach zwanzig Jahren in die Toskana zurückgekehrt war, um ihren Sohn zu suchen, der damals verschwunden war. Sie hatte all die Jahre nie wieder etwas von ihrem Kind gehört, man hatte keine Leiche gefunden, und sie hatte keine Ahnung, wo sie beginnen sollte, und was aus ihr werden würde. Viel Hoffnung hatte sie nicht. Dieses kurze Erlebnis meiner Freundin, die nie wieder etwas von dieser Frau hörte, hat mich tief bewegt. Ich hatte das Gefühl, es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt, als dass das eigene Kind verschwindet und man nicht weiß, was ihm passiert ist. Diese Ungewissheit ist unerträglich, schlimmer als jede Trauerarbeit, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Und ich beschloss, diese Situation, so ein Schicksal als Grundlage für meinen Roman zu nehmen. Ich verarbeitete meine schlimmsten Albträume zu einer spannenden Geschichte, und ich glaube, ich habe meine Leser damit auch mitten ins Herz getroffen.


Und wie entstand die Idee zur Geschichte von Sarah und Franky in dem Buch „Hexenkind“?
Man schreibt immer gern über das, was man gut kennt. Ich wollte eine problematische Beziehung zweier junger Menschen schildern, die darin gipfelt, dass die Frau irgendwann mit ihrem Kind das Land verlässt…, und wählte das studentische Milieu für meine beiden Protagonisten, weil ich mich an meine Studienzeit immer noch lebhaft erinnern kann. Und so entwickelten sich langsam die Figuren und Situationen, und irgendwann gab es die Geschichte von Sarah und Franky und ihrem hyperintelligenten aber nervtötenden Schreikind Elsa.


Gibt es teilweise reale Vorbilder für die Protagonisten Ihrer Bücher?
Nein. Ich kreiere sie vollkommen neu aus der Summe aller Erfahrungen und Begegnungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Ich habe eine Vorstellung von einem Charakter, den ich beschreiben möchte und finde dazu die Situationen, die ihn erklären. Und mit jedem Tag, an dem ich mich mit der Person beschäftige, wächst sie. Der Charakter wird komplexer, vielschichtiger, immer mehr Details und Eigenarten kommen hinzu, und auch erst bei dieser Arbeit lerne ich meine Figur richtig kennen. Und wenn sie mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, reagiert sie selbständig und zwangsläufig, und das ist wunderbar, weil ich mich dann sogar manchmal von meiner eigenen Geschichte überraschen lassen kann. Ein reales Vorbild für eine Figur wäre langweilig. Ich würde mir selbst meine Phantasie beschneiden, würde in Gedanken an dem realen Menschen kleben und nicht weiter kommen. Letztlich verlöre die Figur ihre Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit.


Verwenden Sie auch eigene Erlebnisse oder Eigenschaften in Ihren Romanen?
Wie die Eigenschaften der Figuren entstehen, habe ich schon mit der vorigen Frage beantwortet. Aber natürlich kann es z.B. sein, dass mir zufällig auf dem Markt oder beim Arzt ein Mensch begegnet, der einen Schluckauf hat. Das bringt mich dann auf die Idee, Neris Assistenten einen permanenten und nervigen Schluckauf anzudichten. Ohne diese Begegnung wäre mir das vielleicht nicht eingefallen. Direkte persönliche Erlebnisse, die Anekdotencharakter haben, lassen sich nie in eine Geschichte einarbeiten. Das wirkt aufgesetzt, weil es irgendwie nicht passt, nicht organisch ist. Wichtig sind allerdings die Erlebnisse an bestimmten Orten. Ich schreibe z.B. über ein Bocelli-Konzert auf der Piazza del Campo in Siena, weil ich dort selbst eins erlebt habe. Aber auch wenn es nur darum geht zu schildern, wie man in irgendeiner Stadt in einer Trattoria auf der Straße sitzt…, ich würde es nicht wagen, so etwas zu beschreiben, wenn ich die realen Orte nicht vor Augen sehen und die Atmosphäre spüren würde.


Beide Bücher spielen hauptsächlich in der Toskana. Gibt es einen Grund dafür?
Da gibt es mehrere Gründe. Erstens kenne ich mich in der Toskana besonders gut aus. Ich kenne die Menschen, ihre Eigenheiten, ihre Angewohnheiten, ihre Ansichten, ich kenne die Städte, das Land, das Klima, die Jahreszeiten, aber ich kenne auch die geheimen Ecken, die kein Tourist je findet. Die einsamen Häuser mitten im Wald oder hoch oben auf dem Berg, die nur durch eine lange Jeepfahrt auf abenteuerlichen Straßen zu erreichen sind… Und da wäre ich schon beim zweiten Grund. Derartige Einzellagen und einsame Landhäuser gibt es in Deutschland nicht. In diesen Häusern hat man keine Nachbarn und ist vollkommen unbeobachtet. Ideal, um einen Thriller dort anzusiedeln.

Die Toskana ist wild, urwüchsig, einsam und von atemberaubender Schönheit. Aber man hat dort auch faszinierende Städte und eine absolute Hochkultur. Die Toskana bietet mir Atmosphäre, die für meine Bücher so ungemein wichtig ist. Es gibt Schriftsteller, die nicht so viel Wert darauf legen, für mich ist es das A und O. Und vielleicht gibt es auch viele Leser, die es mögen, eine spannende Geschichte zu lesen, die genau dort spielt, wo sie so gerne Urlaub machen. Und vielleicht denken sie an Felix, Alfred und Anne, wenn sie bei einem Spaziergang auf ein einsames Tal stoßen, durch das ein Bach fließt, oder sie haben eine genauere Vorstellung vom Casa della Strega, wenn sie mitten im Wald, vollkommen unerwartet, plötzlich vor einem kleinen Haus stehen…


Sie beschreiben die Morde in Ihren Büchern sehr detailgetreu und medizinisch korrekt. Wie muss man sich die dazugehörige Recherche zu Ihren Büchern vorstellen? Woher nehmen Sie das Wissen des Ganzen?
Ich beschreibe keinen einzigen Mord detailgetreu und medizinisch korrekt. Das ist nicht richtig. Vielleicht spielen sich einige Details in der Phantasie mancher Leser ab und dann glaubt der Leser, das gelesen zu haben. Das kann sein. Aber weder im „Kindersammler“ noch im „Hexenkind“ gibt es derartige Beschreibungen. Aber sollte ich in einer Geschichte detaillierte medizinische Kenntnisse brauchen, dann frage ich einen befreundeten Arzt.


Wie lange brauchten Sie in etwa von der Idee Ihrer Bücher bis hin zum Beginn des Schreibens und wie müssen wir uns diese Situation vorstellen? Erstellen Sie vorab ein komplettes Script, an welches Sie sich dann halten, oder aber kommen Ihnen die Ideen zu den einzelnen Handlungen eher spontan?
Wenn ich eine Idee habe, fange ich an zu schreiben. Auf langen Spaziergängen erfinde ich die Figuren, die ich dann, wie ich oben schon sagte, beim Schreiben immer besser kennen lerne. Ich weiß ungefähr, worauf die Geschichte hinausläuft. Aber eben nur ungefähr. Da ist Platz für jede Wendung, jede Überraschung für jeden erdenklichen Schluss. Ein Script wäre ein Korsett, das mich in meiner Phantasie behindert und einschränkt. Der schönste Moment ist, wenn die Geschichte eine Eigendynamik entwickelt, die mich mitreißt und jeden Tag neu überrascht. Dann sind auch in meinem Alltag die Figuren immer gegenwärtig und verschwinden keine Minute aus meinem Kopf.


Und wie dürfen wir uns Sabine Thiesler vor dem PC vorstellen? Schreiben Sie an einem Notebook oder an einem nicht verstellbaren Computer? Und an welchem Ort und zu welcher Tageszeit schreiben Sie am liebsten?
Ich sitze in meinem Büro, habe einen schönen Blick über die toskanischen Hügel, und schreibe mit einem Note-Book. Weil es mir besser gefällt als ein Computer mit klappernder Tastatur, und weil ich es mitnehmen kann, wenn ich zwischen Italien und Deutschland hin und her reise. Aber es bleibt immer in meinem Büro. Unter einem Baum würde mir nichts einfallen.

Die Zeiten wann ich schreibe, sind unterschiedlich. Im Sommer schreibe ich lieber tagsüber, im Winter lieber nachmittags und abends. Generell schreibe ich jedoch im Winter lieber als im Sommer.


Wie lange haben Sie an den Romanen „Der Kindersammler“ und „Hexenkind“ jeweils geschrieben, bis sie druckreif waren?
Anderthalb Jahre.


Da Sie bereits unzählige Drehbücher geschrieben haben, wäre es für Sie sicherlich ein leichtes, Ihre beiden Thriller auch verfilmen zu lassen. Gibt es bereits Verhandlungen über Filmrechte zu Ihren beiden Bestsellern?
Verhandlungen und Gespräche gibt es, aber noch nichts Konkretes.


Schreiben Sie bereits an einem dritten Buch? Wenn ja, dürfen Sie schon ein wenig darüber verraten?
Ja, das dritte Buch ist schwer in Arbeit und kommt ganz gut voran. Es wird wieder ein Psychothriller sein, der in der Toskana spielt. Die Beziehung zwischen Mann und Frau steht diesmal im Vordergrund . Mehr kann ich nicht sagen, alles andere ist noch im Fluss und in der Schwebe.


Gibt es Hobbys, denen Sie regelmäßig nachgehen?
Erstens lesen, zweitens lesen und drittens lesen.


Welche Bücher lesen Sie selber am liebsten? Gibt es Lieblingsautoren?
Von meinen Lieblingsdichtern Hauptmann und Flaubert mal ganz abgesehen, hat mich sicher schon vor dreißig Jahren Patricia Highsmith geprägt. Ich habe immer ihren Mut bewundert, wie sie einer Geschichte eine völlig überraschende Wendung gab, indem die handelnde Figur nicht nur etwas völlig Unerwartetes, sondern manchmal sogar etwas Dummes tun ließ. - Ihr kleiner Leitfaden „Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt“ ist für mich ein Muss für jeden Schriftsteller, der sich mit Spannungsliteratur beschäftigt.

In letzter Zeit hat mich vor allem Petra Hammesfahr fasziniert und durchaus auch inspiriert. Aber ich möchte auch Henning Mankell erwähnen, z.B. seine Romane „Tiefe“ oder „Die italienischen Schuhe“, die auch das Thema „Einsamkeit“ behandeln, von einer außergewöhnlichen atmosphärischen Dichte sind und mit einem bemerkenswert knappen Stil starke Gefühle transportieren.


Was war Ihr erstes veröffentlichtes Schreibgut, an welches Sie sich noch erinnern können?
Das Märchen, das ich mit zehn Jahren geschrieben habe und auf einer Schulveranstaltung in der Aula vorlesen durfte…


Arbeiten Sie inzwischen hauptberuflich als Autorin?
Ich arbeite seit 25 Jahren hauptberuflich als Autorin von Fernsehserien, Fernsehfilmen, Hörspielen, Theaterstücken und jetzt: Romanen.


Sind Sie auch heute noch ab und zu als Schauspielerin tätig? Wenn nicht, warum haben Sie damit aufgehört?
Nein, ich bin nicht mehr als Schauspielerin tätig. Den Beruf der Schauspielerin und Kabarettistin hängte ich bereits Anfang der 80iger Jahre endgültig an den Nagel. Als ich anfing professionell zu schreiben, spürte ich, dass dies meine wahre Leidenschaft ist und wollte nichts anderes mehr tun.


Die Leser Ihrer Bücher fasziniert es, dass Sie sie mit ihren Erzählungen in andere, fremde Welten begleiten und fesseln. Welche Faszination übt das Schreiben auf Sie persönlich aus?
Die Erfahrung, dass meine Phantasie unerschöpflich ist und mir immer neue Wege eröffnet, Geschichten und Personen kennenzulernen. Irgendwann sind sie mir so vertraut wie Freunde, die an meinem Tisch sitzen. Vertrauter vielleicht sogar, weil ich ihre intimsten Geheimnisse und Abgründe ihrer Psyche kenne. Es gibt nichts Spannenderes, und ich bin glücklich, dass ich das Geschichtenerzählen zu meinem Beruf machen konnte.


Wie wir Ihrem Lebenslauf entnehmen konnten, schreiben Sie ausschließlich Krimis bzw. Thriller. Warum? Was war ausschlaggebend für die Festlegung dieses Genres?
Das ist falsch. Ich habe nicht ausschließlich Thriller geschrieben, sondern auch viele Komödien fürs Fernsehen und fürs Theater. Fassen Sie mal ein Leben in einem Klappentext in ein paar Sätzen zusammen. Da bleibt vieles auf der Strecke. So auch, dass ich mich jahrelang nur mit Humor beschäftigt habe. Aber in Deutschland wird man gern in eine Schublade gesteckt. Die Leute können sich nicht vorstellen, dass man beides macht. Je nachdem, was man gerade möchte und was gerade gefragt ist.

Ich schreibe Romane, die Thriller sind, weil ich das schreibe, was ich gerne lese. Amüsante Romane langweilen mich, sie bleiben immer an der Oberfläche. Im Theater ist das oft genau umgekehrt.


Welche Ziele haben Sie für Ihre schriftstellerische Zukunft?
Die Hoffnung, dass mir nie die Stoffe und die Ideen ausgehen, dass mir der Spaß am Schreiben erhalten bleibt und ich Leser habe, die meine Bücher gerne lesen, ja sogar ungeduldig darauf warten, dass das nächste Buch erscheint.


Verraten Sie uns zum Schluss auch noch, welchen Wunsch Sie sich erfüllen würden, wenn die berühmte „Gute Fee“ Ihnen eine Erfüllung schenken würde?
Mein Mann und ich leben seit dreißig Jahren zusammen. Symbiotisch, glücklich, einzigartig. Ich würde mir wünschen, dass die Gute Fee einen Eimer voll Gesundheit über uns ausschüttet, auf dass dieser status quo noch lange erhalten bleibt und wir leben, lieben und arbeiten können wie bisher.


Die Fragen wurden zusammen mit den Lesern von Kossis Welt ausgearbeitet. Wir bedanken uns sehr, dass Sie uns die Möglichkeit gegeben haben, einen kleinen Einblick in Ihr Autorenleben zu erhalten. Wir wünschen weiterhin viel Erfolg beim Schreiben und vor allem: Immer genug Spaß an der Sache selbst!!
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